Dienstag, 2. Dezember 2008

Intermezzo #2 - Rohdiamant und Producer




Im Hinterhof sitzt Kurt auf seinen Hinterbeinen mit der Gitarre auf dem Schoß. Er spielt sie leidenschaftlich. Er kann alle Songs von Caroline Reiber auswendig! Und wenn er mal gut drauf ist – was eher selten vorkommt – schiebt er einen lustigen Party-Knaller von Roberto Blanco oder Tony Marshall dazwischen. Da tanzt die ganze Nachbarschaft! Es ist nun tief in der Nacht, als Kurt ein Kracksen vernimmt. Es könnte auch ein Klacksen oder Knacksen sein. Schade, er hatte soeben den Song "This land is your land" begonnen. Er hebt die Finger von den Saiten und spitzt seine Ohren. Da ist doch was, denkt er. Lauschen.

Plötzlich tritt aus dem Schatten eine große, dunkle Gestalt. Sie trägt einen schwarzen Schlapphut, der tief ins Gesicht gezogen ist, dazu ein langer Mantel und äußerst solides Stiefelwerk. Die mysteriöse Gestalt stapft mit düsterer Miene auf Kurt zu und wirft ihm 5 Cents in die verdreckte Tupperdose. Kurt schaut skeptisch – so langsam bekommt er Angst.


Der große, dunkle Mann beugt sich hinab und nimmt dann eine elegante Hockstellung ein. „Hallo, wo bin ich denn hier? Ich suche den Kurt, oder so.“

Kurt zittert am ganzen Leibe und presst seine Wirbelsäule gegen die Kalkwand. "W-w-wer bist du?“

Der große Mann schmunzelt und schiebt seinen Hut etwas nach oben. „Huhu, ich bin Peter. Aber nenn’ mich ruhig King Of Dark Gothic. Ich wohne hier im 3. Stock und habe schon so einiges von dir gehört… und das war ja sehr stark. Ich habe da Erfahrung. Du bist etwas ganz Besonderes. Du bist ein Rohdiamant!“

„Bist du nicht der, der meine Mutter im Treppenhaus mehrmals belästigt hat?“ Kurt hat den Mann nun erkannt. Er hat es einmal live miterlebt, wie der Mann seiner Mutter in den Po gekniffen und sich damit eine Ohrfeige eingefangen hat. Daraufhin erteilte er seiner Mutter eine Kopfnuss. Die rief die Polizei. Er kam ins Gefängnis, kaufte sich jedoch sofort wieder frei.

„Was soll ich sagen…“, antwortet der Mann. „Sie ist HOT. Ich steh auf sie. Ich möchte sie gerne kennenlernen – in meinem Studio.“

„In deinem Studio?“ Kurt legt sein Instrument beiseite.

„Ja, ich habe in meiner Wohnung ein Music Studio. Ich produce Musik. Und du hockst hier heruntergekommen im Hinterhof mit deiner Gitarre. Ich habe da ganz andere Möglichkeiten. Du bist herzlich eingeladen. Und bring deine Mutter mit. Hier ist meine Visitenkarte.“

Kurt nimmt die Karte entgegen und steckt sie sich in die linke Socke. Es ist eine Masche von ihm. Dutzende von Therapeuten wollten ihm das schon abgewöhnen – aber es klappt einfach nicht. Der Kurt ist ein ganz eigenartiger Vogel!

Der große Mann, genannt King Of Dark Gothic, fährt fort: „Deine Stimme, Kurt, ist ja wohl obercool! Hmmn, gute Gene wohl. Ich kann da viel draus machen – mit meinem Harmonizer.“

Doch Kurt ist skeptisch. „Ja, voll, ich glaube dir total!“

Der große Mann lässt sich nicht beirren: „Ich werde einen rassigen Dancefloor-Mix aus deinen Songs schneiden.“

„Du als Profi kannst das ja gut. Wie lange machst du das schon? Dir wurde bestimmt ein Synthesizer in die Wiege gelegt.“ Ironie in Kurts Stimme!

„Tja, ich mache das schon seit 5 Jahren. Man muss es langsam aufbauen, weißt du? Ich habe bereits so einige Hits produziert.“

„Hits? Kenne ich da welche?“

„Bestimmt. Peter Maffay. Tabaluga. Nur so als beeindruckende Referenz jetzt. Schon mal gehört?“

Kurt rümpft die Nase. „Hmmn… der Maffay, der ist gut. Taberluger, das Kindermusical. Das habe ich schon mal gehört, ja. Es hat hier und dort wirklich tolle Stellen.“

„Stimmt, das habe ich alles zusammengeschnitten.“ Der große Mann wirkt sichtlich stolz.

Doch Kurt badet weiterhin in Ironie: „Krass! Da musst du was draufhaben.“

„Das sagen die Frauen auch immer.“ Schallendes Gelächter und beidhändiges Sackkratzen.

„Was blitzt durch deinen dunklen Mantel da? Ich sehe eine helle Stelle. Ist es ein T-Shirt?“

Der schwarze Mann öffnet seinen Mantel und streckt seine Brust imposant hervor. „Ja, es ist ein T-Shirt. Es ist mit einem Motiv bedruckt, welches ich selbst am Computer gemalt habe. Es ist ein Drachen. Er soll meine Kraft, meine Energie repräsentieren. Weißt du, ich bin nämlich auch Grafiker.“

„Ja, toll. Und ich habe dich neulich im Treppenhaus mit einem kleinen Jungen gesehen. War das dein Sohn?“

Nun fühlt sich der große Mann ertappt. „Ja, er ist mein Sohn. Ich habe noch fünf andere Kinder. Aber erzähle das bloß nicht deiner Mutter. Sonst will sie mich nicht. Ich zahle monatlich 2.000 EUR an Unterhalt. Das ist nicht leicht für mich. Aber dank meiner Musikproduktionen kann ich es halbwegs verkraften.“ Dann schaut er plötzlich sehr traurig und geschlagen. Man könnte fast meinen, seine Augen würden wässrig.

„Du, Kurt. Ich habe gehört, du lebst sehr zurückgezogen. Keine Freundin, und so. Wo du doch so toll singst. Und hübsch bist du auch. So gut wie du aussiehst, sah ich auch mal aus… früher.“

„Ach, King Of Dark Gothic, ja… so ist das Leben. Heutzutage kann man Frauen nicht mehr mit Kreativität und Engelsstimme beeindrucken. Sie wollen alle nur Geld. Schau nur in meine Tupperdose. Die paar Cents." Kurt leckt sich mit der Zunge eine spontan auftretende Träne vom linken Nasenflügel. "Aber sage doch mal: Wer war denn die Dame neben deinem Sohn im Treppenhaus?“

Der große Mann fühlt sich ein zweites Mal ertappt. „Ich hatte gehofft, dass du nicht fragst. Ja, ich gestehe es ein. Sie ist meine derzeitige Ehefrau. Aber ich muss es betonen: Deine Mutter ist etwas ganz Besonderes. Wer so tolle Kinder hat, wie du eines bist, der muss selbst auch etwas drauf haben. Ich bin beeindruckt und möchte etwas mit deiner Mutter anfangen. Sage ihr aber nicht, dass ich verheiratet bin.“

„Ich schweige wie ein Grab, dunkler Mann."

„Naja, jedenfalls, es würde mich freuen, ihr besucht mich mal. Dann machen wir uns das schön.“

„Wann hast du denn Zeit? Du musst doch viel beschäftigt sein, wo du doch so ein Profi mit deinem Profi-Musikstudio bist.“

„Ich muss mal schauen, wo ich euch dazwischen schieben kann. In der Tat bin ich sehr viel unterwegs. Da bleiben entspannende Freizeitspaziergänge nur nachts. Wie jetzt. Manchmal gehe ich auch auf den Kinderspielplatz und nage an den toten Tauben. Fürs Kochen habe ich leider auch kaum Zeit. Deshalb wäre es nett, wenn es mit deiner Mutter klappt. Aber vordergründig geht es mir natürlich um DICH, Kurt. Ich werde dich groß rausbringen. Du wirst reich, versprochen.“

Kurt grinst. „Ich denke eher, es geht dir darum, DEINEN groß rauszubringen.“

„Ein Super-Witz!“, lacht der große Mann und klopft Kurt auf die Schulter.

„Kleiner Spaß. Nicht übel nehmen.“, grient Kurt.

„Du bist ja ein Lustiger.“, kommt es aus dem großen Mann und erneut lachen beide laut tönend durch den Hinterhof. Das Echo hüpft wie ein wilder Dschungel-Affe von Hauswand zu Hauswand und bahnt sich so seinen Weg nach oben, ehe es in Richtung Weltraum schießt und dort vielleicht einen entfernten Planeten zur Explosion bringt.

„Es ist jedenfalls schön, dich mal so kennenzulernen und sich mit dir zu unterhalten, lieber Kurt. Hast du vielleicht ein Foto von deiner Mutter bei dir? Würdest du es mir schenken? Wie alt.. pardon.. jung ist sie eigentlich?“

Kurt kramt in seiner rechten Socke und wird fündig. „Sie ist 45. Hier ist das Foto. Nimm es und häng es dir in dein Musikstudio.“

Der große Mann begutachtet das Foto. „Heiß. Wirklich. Sie sieht gar nicht aus wie 45. Jünger!“

„Als das Foto gemacht wurde, war sie 44.“, erwähnt Kurt.

Der große Mann macht große Augen. „Oh. Ich würde sie auf 29 schätzen. Wahnsinn. Das ist alles sehr aufregend. Ihr müsst unbedingt kommen.“

„Ja, stimmt. Du willst mich ja produzieren, gelle? Und einen neuen Bruder für mich noch dazu, was? Das ist dein Plan. Ich glaube, ich habe dich durchschaut, King Of Dark Gothic. Ich bin nicht an einer Zusammenarbeit interessiert, du Spack. Du machst mir nur Komplimente, um an meine Mutter ranzukommen.“

„Aber Kurt. Wir werden reich. Du kriegst alles, was du willst. Auch Frauen. Jeden Abend eine andere. Ich misch das alles zusammen.“

Kurt bekommt Schaum vorm Mund. „Du Gothic. Brauch ich nicht, will ich nicht. Du hast nix. Du kannst nix. Du sülzt nur. Komm mir nicht so.“

„Du bist ganz schön frech, Kurt. Mein Sohn du könntest sein. Ich habe dich etwas anders eingeschätzt. Du nutzt deine Chancen nicht. Mit mir stünde dir alles offen, Kurt. Du musst mich erst mal in Ruhe kennenlernen. Dann wirst du mich mögen. Wie einen Stiefvater.“

„Nö, keinen Bock. Wie kann man sich nur so nennen. King Of Dark Gothic. Dass ich nicht lache. Scher dich zum Teufel, du miese Figur. Du bist mir nicht kompetent genug. Du bist ein undefinierbares Stück Restmüll.“

Der große, dunkle Mann weint nun. „Du brichst mein großes Herz. Kurt, Kurti, Kurtchen. Es hätte so schön werden können. Buhuhuhuhuhuhuhu!“

Kurt setzt nach, er gibt nicht auf. Der Schaum spritzt nur so durch die Gegend. Er sieht aus wie ein lüsternes Kamel. „Mit dir will ich nicht zusammenarbeiten. Du hast leider keinerlei Talent. Jetzt hast du jede Glaubwürdigkeit verloren! Hau ab!“

Peter, der King Of Dark Gothic, erhebt sich. „Naja, ich verschwende besser keine Zeit mehr mit dir. Und mit deiner Mutter will ich auch nichts mehr zu tun haben. Ich habe euren Hund im Treppenhaus gesehen. Ihr habt einen hässlichen Hund! Ich gehe jetzt!“ Dann nimmt er die 5 Cents wieder aus der Tupperdose und geht fünf Schritte vorwärts.

„Sie ist zu gut für dich! Das sage ich dir als Profi. Bye, hau ab!“, ruft Kurt ihm hinterher.

Der große, dunkle Mann dreht sich noch einmal um und winkt mit einem Taschentuch. „Tschüß!“

„Schnauze!“, sabbert Kurt voller Hass und greift wieder zur Gitarre. Und während der King Of Dark Gothic wieder im dunklen Schatten der Nacht verschwindet, schlägt Kurt die 32. Seite im Peter-Bursch-Gitarrenbuch auf und spielt voller Hingabe „This land is your land“ weiter.

Aus dem Schatten raunt es. "Schade, er singt so verdammt gut..."

Montag, 1. Dezember 2008

Intermezzo: Unterschichten-Gespräch am Plattenbau




Tobi und Jonas, Kumpel seit der Sandkasten-Ära, stehen an der Hauswand. Sie sind schlecht erzogene Teenies und halten ein Bierchen in der Hand – gemeinsam halten sie diese eine Flasche fest umgriffen und trinken abwechselnd aus ihr. Sie sind bereits hackedicht. Tobi beginnt ein Gespräch.

„Hab gestern zum ersten Mal inne Badewanne gewichst.“ Jonas schaut überrascht und schmiert sich mit bierfeuchter Hand durchs Haar. Tobi fährt fort: „Weißte, das ist ja widerlich. Da kommt’s so raus und schwimmt in Fäden drin rum. Und wenn man aussteigt ausse Wanne, klebt der Scheiß am Arm, oder so. Saugt sich richtig fest am Körper.“ Jonas öffnet langsam den Mund. „So wie'n Blutegel?“

„Fast - wie halbtrockener Kleber.“, korrigiert ihn Tobi. „Das Problem ist, man merkt's ja nicht, wenn's am Körper klebt. Da sitzte dann so am Abendbrot-Tisch und anner linken Hand hängt so'n Teil.“ Nun muss Jonas schmunzeln: „Und Mama sieht die Wichse am Arm?“ Tobi schüttelt es innerlich. „Haste das mal gemacht? Inne Wanne gewichst?“ Jonas schüttelt den Kopf und nippt vom Bier. „Ich hab' nur einmal den Schwanz innen Duschstrahl gehalten, glaub' ich.“ Tobi erklärt: „Inner Dusche isses kacke. Badewanne rockt! Ruhendes Wasser und alles. Da kommt das in 'nem Strang raus und wird nicht von 'nem Strahl zerteilt." Tobi grinst über beide Backen. "Wie das da inner Badewanne rausgeschossen kommt. Voll geil! So in Fäden, dickliche Fäden, weißgrau. Ich glaub', ich mach das jetzt öfter. Ich sammel das und knet' mir einen Riesenball draus – immer so dazu.“ Doch Jonas hat einen Einwand: „Naja, im Wasser, da kriegste nicht so 'nen Speed drauf. Also auffe Pumpe.“

Tobi will es nicht einsehen: „Wenn man das unter Wasser macht, quitscht es auch nicht so. Und das Geile bei uns ist.. da ist so'n Aluminiumknopf am Fußende unserer Badewanne. Da kann man so dran drehen.. für'n Stöpsel. In diesem Knopf kann man sich selbst dabei beobachten, weil er natürlich spiegelt. Total cool!“

Tobi kippt einen weiteren Schluck Bier in sich hinein. Diese Zeit der Ruhe nutzt Jonas, um seiner Skepsis Nachdruck zu verleihen: „Aber im Wasser wird doch die Reibung nicht so wahrgenommen. Das hab' ich im Physik-Buch gelesen. Ich könnte im stillen Wasser nicht wichsen! Außer ich wichs' 'ne Woche lang nicht und es ist'n Riesendruck im Rohr.“

Doch auch auf diese Theorie weiß Tobi eine Antwort: „Klaro, Jonas. Das geht, wenne den Prengel ganz stramm umgreifst, so dass kein Wasser dazwischen kommen kann. Außerdem ist das Wasser nicht mehr so still, wenn man so rumrubbelt. Das schlägt ja alles Wellen.“ Jonas weiß nun nichts mehr zu sagen. Tobi hat diese Diskussionsrunde auf grandiose Weise gewonnen und schluckt siegreich die letzten Tropfen Bier aus der Flasche.

„So, du, ich muss nun mal wieder. Ist spät und ich bin auch müde! Morgen schreiben wir 'ne Klassenarbeit. Das haut doch sowieso wieder nicht hin. Wir sind einfach total schlechte Schüler!“ Jonas nickt ihm zu, starrt nachdenklich in den Mond und flüstert: „Ja, das stimmt. Es ist die Gegend hier. Es ist die verdammte Gegend. Sie hat uns zur Unterschicht gemacht.“ Dann schlagen sie High Five und gehen ihrer Wege. Sie gehen nicht nur ihrer Wege sondern verschwinden auch aus diesem Buch. Sie haben mit dem Verlauf dieser Story nämlich nichts zu tun.